Viele
der gegenwärtigen Spannungen zwischen Okzident und Orient beruhen
auf Missverständnissen, insbesondere auf unterschiedlichen
Interpretationen der Geschichte. Die vorliegende Untersuchung soll
einen Beitrag leisten zum besseren Verständnis der Entwicklung,
die sich seit 750 in West und Ost vollzogen hat und zwar anhand
der sprachlichen Verhältnisse. Sprache ist auch Spiegel der
Gesellschaft: so bewirkt der Zustand der arabischen Gesellschaften
das Festhalten am Hocharabischen, braucht die höfische Gesellschaft
in Westeuropa und im Iran die Dichtersprachen, benötigen die
Fürsten Kanzleisprachen, erfinden die Nationen ihre Nationalsprachen.
Gegenstand
dieses Buches ist die Entwicklung der Schriftsprachen des Okzidents
im Vergleich zum Orient. Im Vordergrund stehen: die Rolle der Sakralsprachen,
die Tradierung des antiken Erbes, der arabische Einfluss im Westen,
der westliche Einfluss in Osteuropa und dem Orient, die Verschriftung
der Volkssprachen, die doppelte Wende vom Mittelalter zum Humanismus
und weiter zur Aufklärung, der Kampf zwischen Religion und
Nation.
Dabei versucht
der Autor, kulturelle und strukturelle Charakteristika gesondert
zu betrachten. Die kulturelle Ähnlichkeit zwischen Westeuropa
und Byzanz resp. Russland einerseits und zwischen Kalifat, Osmanischem
Reich und Iran andererseits darf nicht über die enormen strukturellen
Unterschiede innerhalb der beiden Kulturräume hinwegtäuschen;
der kulturelle Gegensatz zwischen Russland und dem Osmanischen Reich
darf wiederum nicht ihre strukturellen Gemeinsamkeiten verdecken,
die aus dem byzantinischen Erbe stammen und in der Folge durch die
Reformen von oben verstärkt wurden.
| zum Textanfang
| |